Die Beziehung ist zentral

Erfahrungen der Berufsfachschullehrerin Franziska Rohner Zumbühl mit Distance-Learning

Im Rahmen unseres neuen Gefässes fwd: wollen wir die Erfahrungen einer Berufsfachschullehrerin weitergeben. In der Zeit mit COVID-19 werden ganz neue und ungewohnte Erfahrungen gemacht, aber auch neue Kompetenzen erworben.  

Frau Rohner Zumbühl arbeitet als Berufsfachschullehrerin am Berufsbildungszentrum Gesundheit und Soziales in Sursee. Seit 7 Jahren unterrichtet sie Lernende Fachangestellte Gesundheit. Sie begleitet die Lernenden auch als Klassenlehrperson. Ihr Fach ist Berufskunde. Frau Rohner Zumbühl ist verheiratet und Mutter von drei schulpflichtigen Kindern. Sie hat dabei, neben ihrer Lehrtätigkeit im Distance Learning, auch das Homeschooling hautnah mitbekommen. In ihrer Freizeit macht sie Yoga und ist in den Bergen anzutreffen.

Im Moment ist Frau Rohner Zumbühl Studentin an der PHLU/aeB und wird schon bald das Diplom als Berufsfachschullehrerin erhalten. 

Die Fragen sind von ihr schriftlich am 24. April 20 beantwortet worden und ihre Antworten werden hier ungekürzt wiedergegeben. Frau Rohners Authentizität ist von besonderem Wert. Am Schluss werden ihre Erkenntnisse auf den Punkt gebracht. Daraus können Faktoren abgeleitet werden, die auch auf andere Situationen übertragen werden können. Da wir die Du-Kultur pflegen sind die Fragen auch entsprechend formuliert.  

Folgende vier Fragen werden von Frau Rohner Zumbühl beantwortet:

  • Wie hast du den Distanz-Unterricht bisher erlebt und welche Ressourcen hast du für dich persönlich dabei entwickeln können?
  • Welche Kompetenzen braucht eine Berufsfachschullehrperson in Krisenzeiten für die Begleitung von Lernenden und für den Distanz-Unterricht?
  • Was hat dich in dieser Zeit, vielleicht gerade in der Zusammenarbeit mit deinen Lernenden, speziell berührt, beschäftigt? Ist etwas geschehen, das du so schnell nicht mehr vergessen wirst?
  • Was denkst du ganz grundsätzlich, welche Herausforderungen kommen in der Bildung auf uns zu und welche Angebote braucht es dazu?

Wie hast du den Distanz-Unterricht bisher erlebt und welche Ressourcen hast du für dich persönlich dabei entwickeln können?

Der Distanz-Unterricht an und für sich habe ich als sehr spannend und lehrreich erlebt. Glücklicherweise war ich bereits von meinem Arbeitgeber sehr gut auf diese Situation vorbereitet. Die unterschiedlichen digitalen Tools waren mir und auch meinen Lernenden bereits bekannt, weil wir schon damit gearbeitet haben. Somit konnten wir am Montag nach dem Lockdown-Freitag nahtlos mit Distanz-Learning starten. Die Geräte und Programme meiner Lernenden und mir, machten gut mit, die Umstellung ist gut gelungen.
Was schwieriger war, war die Unsicherheit bezüglich dem Arbeitsalltag in der Pflege meiner Lernenden. Wären Szenarien wie in südlichen Nachbarsländer eingetroffen, hätte dies zu sehr einschneidenden Erlebnissen und Konsequenzen für meine Lernenden geführt. 

Dank den funktionierenden digitalen Medien konnte ich meinen Unterrichtsinhalt auf die Begleitung einer solch aussergewöhnlichen Situation legen. Ich habe meine Lernenden zum Beispiel mit einer Repetition zu Viren und deren Verbreitung oder zu einem bewussten Umgang mit Medien und öffentlichen Informationen beschäftigt. Mir war wichtig, dass sie als angehende Pflegefachkräfte über ein fundiertes Wissen verfügen und auch kritisch gewisse Schlagzeilen, Texte und Zeitungsartikel hinterfragen, sich eigene Gedanken dazu machen und dabei Fragen stellen.

Zudem habe ich zu Beginn den Fokus auf die körperliche und psychische Gesundheit meiner Lernenden gelegt. Ich gab ihnen in der ersten Woche den Auftrag, mir ein Selfie von ihrem Waldspaziergang zu schicken.

Die Zeit vor Ostern war noch sehr stark von Angst und Unsicherheit geprägt. Es war unklar, ob und wie lange der Unterricht noch stattfinden wird oder ob wir alle in den Spitälern oder Institutionen gebraucht werden. Da lag mein Fokus darin, möglichst Vertrautes aus dem Schulalltag weiterzuführen. Die Lernenden bereiteten einen Einstieg vor, den wir gemeinsam durchführten, den handgeschriebenen Tagesablauf stand immer auf einem Foto und ich zeigte mich meinen Lernenden im Bildschirm.

Nun nach den Frühlingsferien hat sich die ganze Situation etwas beruhigt. Die Lernenden sind spürbar weniger angespannt und äussern dies auch.

Ich habe das Gefühl, dass erst seit kurzem so richtiges intensives Arbeiten stattfindet.

Wichtig scheint mir auch noch zu erwähnen, dass der Distanz-Unterricht aktuell sehr zeitaufwändig in der Planung und Nachbearbeitung ist.

Zu meinen Ressourcen: Ich habe mich im digitalen Bereich weiterentwickelt. Ich habe innert kürzester Zeit gelernt, wie ich Videokonferenzen ansage, durchführe, meinen Bildschirm teile, PowerPoint Präsentationen vertone und verschiedene Programme von Microsoft kennen- und schätzen gelernt.

Ich habe gelernt, dass die ausbleibende unmittelbare Resonanz der Lernenden mich zu Beginn ziemlich verunsichert, dass man sich aber mit der Zeit an das gewöhnen kann.

Ich habe gelernt:
– noch mehr Prioritäten zu setzen
– bewusster zurückzulehnen und durchzuatmen
– noch intensiver herauszufinden, was wesentlich ist
– Inhalte zusammenzufassen um sie in einem Arbeitsauftrag zu präsentieren
– persönlichen Gesprächen Platz zu bieten
– immer wieder im Hier und jetzt zu leben
– wie und wo ich mich sicher fühle und diese Sicherheit versucht zu übermitteln
– mich von Medien zu distanzieren und nur auf vertrauten Seiten zu forschen
– offen zu sein für Neues und aus jeder unbekannten Situation etwas zu machen

Welche Kompetenzen braucht eine Berufsfachschullehrperson in Krisenzeiten für die Begleitung von Lernenden und für den Distanz-Unterricht?

  • Sie braucht ein wahres Interesse an jedem einzelnen Lernenden.
  • Sie braucht Empathie, um sich in die Situation der Lernenden hineinversetzen zu können (nicht nur im schulischen, auch im beruflichen und vor allem im privaten Bereich).
  • Sie braucht eine gewisse Möglichkeit selber ruhig und gelassen zu bleiben, damit sie Sicherheit übermitteln kann. 
  • Sie muss eine Beziehung zu den Lernenden haben, die Lernenden kennen und spüren, wer was braucht
  • Sie braucht ein Bewusstsein, dass ihre Informationen für die Lernenden etwas vertrautes und wichtiges sind, und aus diesem Grund muss sie sich in regelmässigen Abständen bei den Lernenden via Mail melden (mind. 1x vor dem geplanten Unterricht und dann auch im Unterricht).
  • Sie muss wichtige Informationen der Institution an die Lernenden weiterleiten, auch dann, wenn es grad keine Neuigkeiten gibt.
  • Sie braucht Mut zur Lücke.
  • Sie muss nachsichtig sein, mit sich, den Lernenden, der neuen Situation und dem Unterrichtsstoff.
  • Sie muss bereit sein auch von den Lernenden zu lernen-«digital natives»!
  • Sie muss geduldig sein, mit sich und den Lernenden.
  • Sie muss wissen, wer hilft, wenn es technische Probleme gibt und sie soll möglichst pragmatisch bleiben, wenn etwas nicht funktioniert.
  • Sie soll sich immer wieder bewusst sein, dass sie einen Beitrag zur «Normalität» oder zu Gewohntem leisten kann.

Und sie soll sich bewusst sein, dass alle in der aktuellen Situation ganz viel lernen – vieles davon steht in keiner Bildungsverordnung, wird aber fürs Leben gelernt und nie mehr vergessen.

Was hat dich in dieser Zeit, vielleicht gerade in der Zusammenarbeit mit deinen Lernenden, speziell berührt, beschäftigt? Ist etwas geschehen, das du so schnell nicht mehr vergessen wirst?

Ich befürchtete, dass ich nun keine Beziehung mehr zu meinen Lernenden aufrechterhalten kann- oder einfach nicht mehr so, wie ich mir dies gewohnt war. Ganz schnell wurde mir aber klar, dass dies sehr gut, vielleicht sogar besser gelingt. Und zwar nicht zu den Lernenden als Klasse, aber zu jedem Einzelnen in der Klasse. Ich habe nun schon zum zweiten Mal während meines Unterrichts jedem einzelnen Lernenden angerufen und mit ihm/ihr 5-10 Minuten zu sprechen. Und da habe ich so viel über die Lernenden erfahren, wie ich sonst in ganzen drei Ausbildungsjahren von einzelnen Lernenden nicht erfahren hätte. 

Die Gespräche via Videochat waren locker und wir haben jeweils über dies und das gesprochen, aber auch über Sorgen und Ängste. Solche Gespräche finden im Schulalltag im Schulzimmer nur sehr selten statt, da einerseits die Zeit nicht reicht und andererseits der Raum dafür nicht zur Verfügung steht. Möchte man mit einem Lernenden sprechen, schauen oder hören viele andere zu, oder aber man muss mit ihm/ihr vor die Tür, was meistens nicht so angenehm für die Lernenden ist. Ich wünsche mir, dass ich dies irgendwie in meinen Unterricht integrieren kann, wenn er dann wieder mal im Schulzimmer stattfindet.

Berührt hat mich, dass 95% der Lernenden äusserten, die Schule im Schulhaus zu vermissen, und sie so gerne wieder in die Schule kommen möchten. 

Oder auch, dass sehr viele Lernende wissen möchten, wie es mir geht.

Ich habe auf unserer Klassen-TEAMS-Plattform eine Seite eingerichtet. Sie heisst «die andere Seite». Da sind die Lernenden aufgefordert, etwas Positives aus dieser Corona Zeit aufzuschreiben. Das kann eine Begegnung, ein Erlebnis, ein Gespräch ein Film oder ein Artikel aus der Zeitung sein, der die andere Seite (die gute/positive) Seite aufzeigt. 

Es ist schön zu sehen, was da so langsam alles für Bilder oder Filme eingetragen werden.

Was denkst du ganz grundsätzlich, welche Herausforderungen kommen in der Bildung auf uns zu und welche Angebote braucht es dazu?

Puh! Das ist eine schwierige Frage. 

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Bildung verändern wird, also nein, ich hoffe sie wird sich verändern. Und das hoffentlich schon ganz bald. Schule ist so ziemlich das Einzige was sich in den letzten 50 Jahren nicht verändert hat. Alles drumherum aber schon. Besonders die Menschen- es wird Zeit, dass wir neu denken. Wie kann Lernen sonst noch stattfinden? Nicht nur im Schulzimmer mit einem Absenzreglement, Ordnung, Druck und Prüfungsangst?

Ich hoffe, dass wir mutig und kreativ sind, unsere Schulzimmer zu öffnen und klassen- und berufsübergreifend zu lernen beginnen. Darauf vertrauen, dass es auch anders geht. Dass wir alte Ideen, Gewohnheiten und auch Vertrautes loslassen können, um befreit und «gwundrig» bereit sind Neues zu erschaffen.

Ich hoffe, dass wir einen Weg zurück zu wichtigen Fertigkeiten finden. Dass wir uns, auch als Gesellschaft, loslösen können, von Zahlen in Zeugnissen und stattdessen im Zeugnis etwas über die Person steht. Die aktuelle Lage zwingt uns, an den Schulen reduziert zu prüfen- das freut mich- noch mehr hätte mich gefreut, gar nicht zu prüfen! Dazu fehlt vielen von uns noch immer den Mut, leider…

Auf den Punkt gebracht

Zu Beginn des Distance-Learning ist das Wohlergehen der Lernenden sehr wichtig. Ihnen die Zeit lassen, um damit vertraut zu werden. 

Die Lernenden mit etwas Vertrautem abholen, das sie aus dem Präsenzunterricht kennen und so den Anschluss besser finden. 

Mit dem Waldspaziergang und dem Selfie geht es darum, auch andere Sinne in den Lernprozess zu integrieren, die durch das Distance-Learning sonst zu kurz kommen. 

In Bezug auf die notwendigen Kompetenzen für Lehrpersonen in Krisenzeiten legt Frau Rohner Zumbühl ein Schwergewicht auf die Beziehung mit Interesse, Empathie, Geduld, Verständnis u.a.m. Wichtig ist ein Gespür für die Frage, wer was braucht und die Fähigkeit, darauf eingehen zu können. 

Eine spezielle Erfahrung ist für sie, dass sich die Beziehungen zu den Einzelnen dank der Einzelbetreuung über das Telefon eher verbessert hat. Ebenso, dass der grösste Teil der Lernenden den Unterricht an der Schule vermissen. Es wird auch deutlich, dass die Beziehungsarbeit gegenseitig ist, da sich die Lernenden auch mehr nach dem Befinden von Frau Rohner Zumbühl erkundigt haben. 

Für die zukünftigen Herausforderungen in der Bildung erhofft sie sich erweiterte Lernformen, die nicht nur immer in der gleichen Klasse stattfinden, sondern dass es eine Öffnung der Schulzimmer gibt und berufsübergreifendes Arbeiten und Lernen möglich ist.